Wracktauchen vom Feinsten – Die MS Seattle in Südnorwegen

Am fünften Tag unserer Gruppenreise nach Skottevik, in Südnorwegen fiel das frühe Aufstehen wirklich niemandem schwer. 7:30 Uhr aufstehen, frühstücken, Ausrüstung zusammenbauen und checken und anziehen. 9:30 Uhr ist Abfahrt.

Mit dem 600 PS RIB fuhren wir bei gut 2 Meter Welle, mit 3 Teams, á 2 Tauchern ca. 20 Minuten Richtung Westen, in den Korsvik Fjord bei Kristiansand. Das Ziel ist eines der bekanntesten und schönsten Wracks des Norwegischen Südlandes, die MS Seattle

Das deutsche Frachtschiff lief 1928 in Hamburg vom Stapel und pendelte in den Folgen den Jahren regelmäßig zwischen Deutschland und der amerikanischen Westküste. Auf ihrer letzten Reise im Sommer 1939 erhielt die Seattle, wie alle deutschen Schiffe den Befehl auf schnellstem Weg in die Heimat zurück zu kehren oder einen neutralen Hafen anzulaufen. Daraufhin nahm der Kapitän Kurs auf den Hafen von Willemstad, der Hauptstadt von Curacao, wo sie jedoch mit anderen Schiffen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande, festgesetzt wurde. Dort nahm man den internierten Schiffen alle Möglichkeiten der Navigation und Kommunikation und verlegte sie in die San Miguel Bucht wo sie von alliierten Schiffen beaufsichtigt wurden.  Ein halbes Jahr später gelang der Seattle die Flucht und in den folgenden Wochen überquerte sie ohne Kompass und Kartenmaterial entlang der Dänemarkstraße, der Meerenge zwischen Grönland und Island, den Atlantik und folgte darauf der Küste Norwegens bis vor die Hafeneinfahrt von Kristiansand. Dort angekommen, geriet sie während der Operation Weserübung, dem deutschen Überfall auf Norwegen, ins Kreuzfeuer zwischen der deutschen Flotte und der norwegischen Küstenbatterie.

Nach einem verheerenden Treffer geriet die MS Seattle in Brand und trieb vier Tage bevor sie nahe der kleine Insel Oksoy unterging. Die Besatzung konnte vollständig gerettet werden. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, wer das Schiff versenkt hat. Heute liegt das 146 Meter lange und knapp 19 Meter breite Schiff heck aufwärts in einer Tiefe von 25 bis 75 Metern und hat damit sowohl Sport- als auch technischen Tauchern viel zu bieten.

Zurück zu unserer Tour! Nachdem wir an der Shotline festgemacht hatten, legten wir die Geräte an und ließen uns ins Wasser fallen. Unser Abstieg führte bei gut 15 Meter Sicht auf eine Tiefe von 40 Metern, wo man den hinteren Teil des bereits stark zerfallenen Brückenaufbaus noch gut erkennen konnte. Dort angekommen begannen wir nach kurzer Zeit aufsteigend das Heck der MS Seattle genauer zu betrachten. Als erstes trafen wir dabei auf den großen offenen Laderaum, der sehr zur Penetration einlädt. Dieses ist allerdings auf Grund der sehr schwachen Struktur des Schiffes zu gefährlich und daher strengstens verboten. Eine 2010 verunglückte dänische Taucherin befindet sich immer noch im Bauch des Schiffes. Es wird vermutet, dass sie in einem mittlerweile unzugänglichen Bereich des Maschinenraums verunfallte.

Oberhalb des Laderaums gelangt man an einen weiteren, ebenfalls stark beschädigten, aber sehr detailreichen Decksaufbau. Davor sind noch einige Gasflaschen zu sehen. Dieser Bereich ist auf Grund der geringeren Tiefe, oberhalb 30 Meter deutlich stärker bewachsen. Hier findet man Seesterne und vereinzelt Fische. Wenn man in dieser Tiefe eine Runde um das Wrack dreht kann man das gut erhaltene Rudergestänge und die Propellerwelle erkennen, die wir jedoch nur noch aus der Ferne, von der Shotline aus bestaunen konnten, da es an der Zeit war aufzusteigen.

Als die MS Seattle unter uns in der Tiefe verschwand, hinterließ sie viele bleibende Eindrücke.  Man hat bildlich vor Augen, wie das Schiff sich auf seinen Reisen den Weg über den Atlantik bahnte und kann, wenn auch nur wage, erahnen unter welchen Umständen sie sank. Für mich war der Tauchgang an diesem Wrack einer der schönsten, den ich erleben durfte, und ich bin sicher, dass es nicht der letzte Besuch gewesen sein wird.

 

Text: Enrico Fetz